Seit Montag, dem 11. Juli 2022, fließt kein Erdgas mehr durch Nord Stream 1. Wegen nötiger Wartungsarbeiten wurde die Lieferung gestoppt - aus politischem Kalkül könnte sie gesperrt bleiben. So zumindest befürchtet es Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und die Bundesnetzagentur. Aber auch in der Bevölkerung geht die Angst um: Müssen wir alle im Winter frieren?

Nun ist es zugegebenermaßen schwer, in den Kopf von Wladimir Putin zu blicken. Trotzdem kann man sich die Frage stellen: Wie wahrscheinlich ist es, dass Russland seine Gaslieferung an Deutschland komplett einstellt? Welche Punkte sprechen für ein Embargo vonseiten Russlands? Und was würde eine solche Blockade Russland kosten, und was Deutschland?

Was gegen ein russisches Gas-Embargo spricht

Die Bedeutung von Nord Stream 1 für Deutschland und ganz Europa ist enorm. In normalen Jahren fließen über 50 Milliarden Kubikmeter Gas aus Russland nach Lubmin bei Greifswald. Das entspricht ungefähr der Hälfte des von Deutschland pro Jahr verbrauchten Erdgas, rechnet das ZDF vor. Zwar fließen Teile des Rohstoffs auch in andere europäische Länder, dennoch zeigt allein diese Zahl die Bedeutung der Ostsee-Pipeline für die Bundesrepublik. Andererseits müsste Russland auch auf erhebliche Einnahmen verzichten. Auf 7,4 Milliarden Euro schätzt Focus Online die monatlichen Verluste für Russland bei den aktuellen Preisen, sollte sich das Land dazu entscheiden, kein Gas mehr durch Nord Stream 1 zu pumpen. Die Frage ist: Kann und will sich das Land diese Einnahmen entgehen lassen?

Dagegen sprechen fehlende Absatzmöglichkeiten für Erdgas. Russland ist beim Export von Erdgas sehr abhängig vom Pipeline-System. Nur rund ein Fünftel aller Erdgasexporte Russlands liefen vor dem Krieg als Flüssiggas-Transporte per Schiff ab. Der Rest floss per Pipelines vor allem nach Europa und China. Doch Pipelines haben einen begrenzten Durchfluss - Russland kann nicht einfach mehr Gas nach China liefern und würde deshalb bei der Blockade von Nord Stream 1 sein Gas kaum losbekommen. Ein schwerer Schlag für Russlands bereits geschwächte Wirtschaft.

Zudem beherrschen die westlichen Länder den Seetransport - könnten bei einer Eskalation Russlands Möglichkeiten des weltweiten Gashandels weiter einschränken. Das stark von Rohstoff-Exporten abhängige Russland würde bei einer kompletten Blockade auch riskieren, dass sich gerade die europäischen Länder schneller und endgültig vom Gas als Energieträger verabschieden

Erdgas als politisches Druckmittel - Sanktionen und Kaliningrad

Bei der Diskussion um Nord Stream 1 wird oft vergessen, dass die Ostsee-Pipeline nicht die einzige ist, über die Russland Erdgas nach Europa liefert. Ausgerechnet über die Ukraine läuft nun die letzte noch verbliebene Pipeline. Etwas über 40 Millionen Kubikmeter Gas pro Tag kann derzeit aus der Ukraine geliefert werden, berichtet Zeit Online. Hätte Russland tatsächlich ein Interesse daran, Europa generell von der Gaszufuhr abzuschneiden, sollte man eigentlich annehmen, dass es auch die ukrainische Pipeline blockieren würde.

Im Wirtschaftskrieg zwischen Russland und dem Westen ist Gas zudem Putins schärfstes Schwert. Ein kurzfristiger Ersatz ist nicht möglich, wie Wirtschaftsminister Habeck betont. Doch einmal gezogen, wird das Schwert stumpf. Und der Westen würde wohl seinerseits Sanktionen weiter verschärfen. Dabei fällt der Blick auch auf Kaliningrad. Die russische Enklave ist auf Exporte aus Russland angewiesen. Doch Litauen blockiert derzeit den Transport vieler Waren. Gut möglich, dass Russland Nord Stream 1 als Druckmittel verwendet, um auf eine Lockerung der Sanktionen hinzuwirken. Russland hatte vergangene Woche betont, dass es an einer diplomatischen Lösung des Problems interessiert sei. 

Die Angst Deutschlands und Europas vor einem Lieferstopp Russlands ist damit für Putin eine Waffe. Westliche Politiker warnen vor sozialen Verwerfungen, schwere ökonomische Schäden werden befürchtet. Doch die würden auch Russland weiter treffen: Schon jetzt wird befürchtet, dass Europas neuer Hunger auf Flüssiggas in anderen Regionen der Welt zu massiven wirtschaftlichen Schäden führen wird, beispielsweise in den energiehungrigen Staaten Südostasiens. Eine weltweite Rezession würde jedoch auch das exportabhängige Russland weiter schwächen. 

Gut möglich also, dass Russland eher mit den Ängsten der Europäer spielen wird. Statt eines kompletten Lieferstopps wären dann kurzfristige Lieferdrosselungen für bestimmte Länder das Mittel der Wahl. So könnte Putin versuchen, Risse in der europäischen Einigkeit zu erzeugen und die westlichen Verbündeten gegeneinander auszuspielen.  

Was genau Putin wirklich vorhat, wird sich jedoch frühestens Ende nächster Woche zeigen: Dann sollten die Wartungsarbeiten an Nord Stream 1 theoretisch abgeschlossen sein. Es sprechen eigentlich viele Gründe gegen einen kompletten Lieferstopp seitens Russlands. Doch leider haben die vergangenen Monate gezeigt, dass Wladimir Putin nicht unbedingt rational handelt.