• Das Leben Kohlbergs
  • Die Hintergründe des Modells
  • Das Stufenmodell der moralischen Entwicklung
  • Selbsttest: Eine Dilemma-Geschichte
  • Kritik an der Theorie

Jeder von uns hat eine andere Vorstellung davon, was moralisch richtig und was falsch ist. Lawrence Kohlberg untersuchte anhand von Dilemma-Geschichten, wie genau sich dieses Empfinden entwickelt und wie man die Entwicklung der Moral strukturieren könnte.

Biographie von Lawrence Kohlberg

Lawrence Kohlberg wurde am 25. Oktober 1927 in Bronxville, einem Vorort von New York, geboren. In seiner High-School-Zeit hatte er aufgrund verschiedener Vergehen gegen die Schulordnung immer wieder Probleme. 1945 musste er im Krieg als Wehrdienstleiter aktiv werden. Nachdem das Schiff, auf dem er diente, eingenommen worden war, war er erst ein Gefangener in Zypern, lebte dann nach seiner Befreiung in Palästina und kehrte anschließend nach der schwierigen Zeit wieder zurück in die USA.

Nach seiner Rückkehr begann er ein Studium der Psychologie an der University of Chicago. Seine Leistungen waren so hervorragend, dass er seinen Bachelor nach nur einem Jahr erhielt. Seine Dissertation über "Die moralische Entwicklung des Menschen" formulierte er bereits 1958. Er war der Meinung, dass moralische Entwicklung nie abgeschlossen werde, sondern dass es sich um einen kontinuierlichen Prozess handele. Wichtige Theorien, die seine Arbeit vermutlich beeinflusste, waren John Rawls moralphilosophische Gerechtigkeitstheorie und Jean Piagets Theorie der Moralentwicklung. Er selbst revidierte und überarbeitete seine Theorie ständig; zuletzt veranschaulichte auch ein Stufenmodell seine Theorie.

Seinen nächsten Lebensabschnitt fundierte die Arbeit als Professor für Erziehungswissenschaften an der Harvard University. Seine Aufgabe war nicht nur das Unterrichten: Er gründete das "Zentrum für moralische Entwicklung und Erziehung", dessen Leitung er von 1968 bis 1987 übernahm. 1971 infizierte er sich mit Lamblien. In den Jahren danach litt er sehr unter den Folgen. Am 19. Januar 1987 starb er.

Die Entwicklung des Modells

Seine Theorieentwicklung basierte auf einigen analytischen Grundfragen. Wichtige Fragen waren beispielsweise, welchen Einfluss Zwang durch Erwachsene auf Kinder hat, inwiefern soziale Kooperation das moralische Urteil verändert oder beeinflusst, welchen Einfluss die kognitive Entwicklung hat und wie diese drei Faktoren miteinander interagieren.

Kohlberg untersuchte die moralische Entwicklung, indem er Jungen in drei Altersgruppen befragte. Er setzte jedem von ihnen ein hypothetisches Dilemma vor und fragte den Jungen anschließend, wie er handeln würde und weshalb. Die Antworten notierte er und analysierte sie im Anschluss sorgfältig. Durch seine Erkenntnisse kam Kohlberg auf die Idee, die Entwicklung des moralischen Urteils in einem Modell von mehreren Ebenen und Stufen darzustellen.

Kohlbergs Stufenmodell gliedert sich in drei Ebenen, die jeweils zwei Stufen enthalten. In seinem Modell geht es aber nicht um die Quantität des Wissens über moralische Werte und Normen, sondern vielmehr über die qualitative, individuelle Denkweise über diese. Kohlberg ging davon aus, dass die Stufen aufeinander aufbauen: Die Folgestufe könne also nur erreicht werden, wenn auch die vorherige Stufe durchlaufen worden sei. Den Fortschritt erreiche man durch "Lernen", da sich die kognitiven Strukturen infolgedessen so ausbauen und verfeinern, dass Probleme differenzierter und besser gelöst werden können. Ziel sei es, die höchste Stufe zu erreichen; dies gelinge jedoch nur den wenigsten Menschen. Wie schnell die Entwicklung abläuft, ist individuell. Es ist auch immer möglich, auf einer Stufe stehenzubleiben. Rückschritte seien nach Kohlberg auch möglich, aber sehr unwahrscheinlich. In jeder Stufe stehe das Individuum in einer anderen Beziehung zu sich selbst, den Werten und Normen der Gesellschaft und seinem Umfeld.

Das Stufenmodell des moralischen Urteils

Präkonventionelle Ebene: "Was gilt als richtig?"

Stufe 1: Orientierung an Bestrafung und Gehorsam

Vereinfacht gesagt wird in dieser ersten Stufe das als "richtig" eingestuft, was keine Bestrafung mit sich bringt. Ist man "gehorsam", empfindet man einen gewissen Selbstwert. Das Handeln ist egozentrisch: Interessen anderer Personen sind nicht von Interesse oder werden nicht beachtet. Perspektiven von Autoritäten werden ohne kritisches Hinterfragen einfach hingenommen und als die eigene interpretiert.

Stufe 2: Die instrumentell-relativistische Orientierung

Regeln werden nur dann befolgt, wenn sie auch einen Vorteil für jemanden mit sich bringen. Eigene sowie andere Interessen werden durch das Handeln befriedigt. Es wird erkannt, dass Gerechtigkeit relativ ist: Nicht alles, was in dem Interesse des einen ist, ist auch für den anderen von Interesse.

Konventionelle Ebene: "Mit welchen Gründen ist etwas richtig?"

Stufe 3: Die Orientierung an zwischenmenschlichen Beziehungen der Gegenseitigkeit

Zwischenmenschliche Beziehung gewinnen in dieser Stufe an Relevanz. Ziel einer Handlung ist es, den Erwartungen der Autoritäts- und Bezugspersonen zu entsprechen und somit als "gutes Mädchen/ guter Junge" zu gelten. Es folgen Schuldgefühle, wenn man selbst den Erwartungen nicht gerecht wurde.

Stufe 4: Die Orientierung an Gesetz und Ordnung

Alles das wird als richtig angesehen, was den moralischen Normen der Gesellschaft entspricht. Das Funktionieren und Aufrechterhalten der Gesellschaft wird als Ziel der Handlung angesehen.

Postkonventionelle Ebene

Stufe 5: Die legalistische Orientierung am Sozialvertrag

Moralische Normen werden anerkannt und als verbindlich, aber nicht als unveränderlich angesehen. Es wird sich an einem Gesellschaftsvertrag orientiert: Es gelten die Motive der Gerechtigkeit und der Nützlichkeit.

Stufe 6: Die Orientierung am universalen ethischen Prinzip

Prinzipien der Handlung sind die zwischenmenschliche Achtung. Jede Handlung wird aufgrund von individuellen ethischen Prinzipien evaluiert, die sich auf Universalität und Widerspruchslosigkeit berufen.

Beispiel für ein Dilemma: Teste dich selbst

Eine der bekanntesten Dilemmata-Geschichten, welche Kohlberg formulierte, war das "Heinz-Dilemma". Dabei geht es um einen Mann namens Heinz, dessen Frau krank ist und die nun im Sterben liegt. Es gibt in der Stadt, in der die beiden wohnen, einen einzigen Apotheker, welcher ein Medikament anbietet, das zur Heilung der Frau beitragen könnte. Problematisch ist: Das Medikament wird weit über seinen Wert hinaus verkauft. Heinz ist nicht bereit und besitzt auch nicht die finanzielle Kapazität, das Medikament für den zehnfachen Preis zu kaufen, den die eigentliche Herstellung kosten würde.

Er bemüht sich, mit dem Apotheker ein Geschäft auszuhandeln, um das Medikament für einen geringeren Preis zu erhalten. Alle Mühe ist vergebens. Heinz schafft es nicht, das nötige Geld zu beschaffen, welches für das Medikament nötig wäre. Aus Verzweiflung und aufgrund der fehlenden Zeit entschließt Heinz sich, das Medikament zu stehlen: Er bricht in die Apotheke ein.

Im Anschluss an die Geschichte wurde gefragt, weshalb und ob Heinz das Medikament hätte stehlen sollen. Zudem wurde eine Beurteilung gefordert: Was ist schlimmer, jemanden sterben zu lassen oder etwas zu stehlen? Wie jede Dilemma-Geschichte enthält auch diese zwei sich nicht vereinbare moralische Normen. Einerseits ist es hier der Wert des Lebens, welcher im Kontrast zu der Straftat des Diebstahls steht. Eine "optimale" Lösung gibt es für die Dilemma-Geschichten nicht; es ging Kohlberg nur darum, die Argumente und Begründung für die gewählte Lösung zu analysieren und daraus eine Struktur zu erkennen.

Kritik an Kohlbergs Theorie

Eine maßgebliche Kritik an seiner Studie war der Fakt, dass er für seine Untersuchungen lediglich maskuline Probanden untersuchte. Die Daten werden dementsprechend oftmals als "nicht repräsentativ" verurteilt. Zudem führten Kritiker*innen auf, dass die moralische Entwicklung nicht immer intellektuell, sondern häufig auch auf habituellen Grundlagen basierend verlaufe.

Des Weiteren beobachteten Kritiker*innen, dass die moralischen Entscheidungen einzelner Personen sich nicht immer in einer Stufe einordnen ließen. Während erste Entscheidungen eines Probanden sich beispielsweise auf der dritten Stufe befanden, konnten sich die darauffolgenden auf einer ganz anderen befinden. Die Entscheidung sei also immer auch kontextabhängig.

Die Moralentwicklung Kohlbergs ist heute noch von hoher Relevanz, da sie sich auch ideal mit kognitiven Entwicklungstheorien verknüpfen lässt. Seine kognitive Entwicklungstheorie des moralischen Urteils gilt auch heute noch als eine der bekanntesten Theorien zur Moralentwicklung bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen.