Es könnte lächerlich wirken, wenn ein 63-Jähriger auf der Bühne herumhüpft wie ein Jungstar. Es dürfte nach 40 Jahren im Musikgeschäft nicht mehr nötig sein, jedem Fan persönlich die Hand schütteln zu wollen. Und es müsste an sich absolut unglaubwürdig sein, 100 Millionen Dollar im Jahr zu verdienen und von schlecht bezahlten Jobs zu singen.Doch nichts von alledem trifft für das Phänomen Springsteen zu. Der Superstar aus den USA ist auf dem besten Weg, seine eigene lebende Legende mit spielerischer Leichtigkeit zu überholen. Während dutzendweise gelehrte Biografien und sogar ein Film über das singende Gewissen der Verunsicherten Staaten von Amerika erscheinen, prügelt das Energiewunder aus New Jersey auf seiner aktuellen Welttournee jeden Anflug von Müdigkeit, Nostalgie oder Depression mit der Abrissbirne von der Bühne. 50.000 Fans Die jeweils knapp 50.000 Zuschauer, die Bruce Springsteens letzte Deutschland-Konzerte in Mönchengladbach und Leipzig erlebten, dürfen sich als Teil der Legende fühlen und den Spirit - den Geist - dieser beiden denkwürdigen Abende für ihre Enkel konservieren. Als Springsteens unaufhaltsamer Aufstieg ins Rampenlicht 1973 begann, bescheinigte ihm ein Kritiker, er repräsentiere die Zukunft des Rock'n'Roll. 40 Jahre später ist vom Rock'n'Roll nicht mehr so viel übrig geblieben. Zukunft? Mit den greisen Rock-Rentnern, die sich noch auf die Bühne schleppen, wirft man einen melancholischen Blick in die Vergangenheit einer Musik, die mit ihrer simplen Komplexität einst eine ganze Jugend-Generation befreit hat: Gitarre, Schlagzeug, Yeah! Diese schlichte Muster funktioniert bei Springsteen immer noch. Es begeistert die inzwischen dritte Fan-Generation. Während seine E-Street-Band aus zwei Dutzend Ersatzteilen von der künstlichen Hüfte bis zum Bypass besteht, strotzt der "Boss" selbst nach 120 Konzerten einer Zwei-Jahres-Tour vor Kraft und Spielfreude. 27 Stücke In Leipzig jagte der Rock-Maniac seine Musik-Arbeiter und 45.000 restlos absorbierte Fans in der Abendsonne durch ein Drei-Stunden-Set mit 27 Stücken. Dabei spult der 63-Jährige nicht einfach nur sein Programm ab. Die Setlist war etwa im Vergleich mit der Show in München im Mai komplett neu gemischt. Zum Entsetzen seiner Band und vor allem der Brass-Combo schnappte sich Springsteen Wunschzettel aus dem Publikum - längst ein Running Gag bei seinen Auftritten - und studierte mit Chuck Berrys "You never can tell" in denkwürdigen zehn Minuten sogar ein völlig neues Stück ein. Gitarre, Schlagzeug, Yeah! Springsteen schöpft ein unerschöpfliches Potenzial aus der kreativen Kraft der Beständigkeit, die dieser simplen Musik innewohnt. Ein bisschen Theater Man muss nicht alles mögen, was Springsteen tut und singt. Die erste halbe Stunde seiner Show in Leipzig könnte man mit Blick auf den Zoo vor der Redbull-Arena durchaus als Affentheater bezeichnen. Händeschütteln im Publikum, ein Tänzchen mit der Rot-Kreuz-Helferin, der im Publikum geschnorrte und auf ex geleerte Bierbecher (der betroffene Fan hat wohl niemals fünf Euro besser angelegt!) ... Das alles hat mit Musikgenuss nicht so viel zu tun, gehört aber zum Gesamtkunstwerk Springsteen, dessen Auftritt all die neuen Biografien Makulatur werden lässt. Es ist doch alles gesagt und geschrieben über diesen Mann, und doch trifft keine einzelne Zeile am Ende den Kern dieser Künstlerpersönlichkeit. Wie bitte? Der schluckt seit 25 Jahren Pillen gegen Depressionen! Die sensible Abrissbirne Mit einem unglaublich inspirierten "Spirit in the night" und dem Titelsong seiner aktuellen Platte, die der Welttournee den Namen gibt ("Wrecking Ball", Abrissbirne), startete Springsteen in Leipzig nach 30 Minuten Theater in eine mitreißende Reise quer durch die Vergangenhgeit und Zukunft seines Rock'n'Roll. Er braucht nur ab und an in die Best-Of-Kiste zu greifen (Born in the USA, Dancing in the dark ...), kann sich aber darauf verlassen, dass auch die Raritäten aus 40 Jahren im Musikgeschäft zünden. Am Ende, als die Band schon im Sauerstoffzelt lag, gab er eine akustische Version von "Thunder Road". Der Rockschwerarbeiter, hochmusikalisch und sensibel. Das müsste unvereinbar sein. Im Phänomen Springsteen ist es stimmig.