Der Stromversorgung fehlt noch der Bauplan

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Proteste gab es auch am Mittwoch beim Rossmarkt in Berching. Foto: Armin Weigel/dpa
Proteste gab es auch am Mittwoch beim Rossmarkt in Berching. Foto: Armin Weigel/dpa

Die Proteste der Bürger in Franken gegen Windräder und Leitungen wurden via München nach Berlin getragen. Jetzt sucht die Große Koalition nach dem Stein der Weisen bei der Stromversorgung. Und das braucht Zeit: Von Beschleunigung redet plötzlich keiner mehr.

"Neue Gaskraftwerke!" - "Längere Laufzeiten für Kernkraftwerke!" - "Mehr Windkraft!" - "Aber nur auf hoher See!" - "Neue Stromleitungen!" - "Keine Verschandelung der Landschaft!" - "Die Bürger fragen!" - "Netzausbau beschleunigen!" ... Wäre die Energiewende der Turm zu Babel, dann würde das ganze Bauwerk schon bedenklich wackeln, obwohl es noch nicht einmal das Fundament hat.

Genau genommen fehlt auch noch ein Bauplan, und ob überhaupt ein Turm gebaut werden soll, ist ebenfalls offen ... Die Energiewende in Deutschland muss knapp drei Jahre nach der Katastrophe im japanischen Atomkraftwerk Fukushima von Grund auf neu durchdacht werden.


Wendehals oder Vordenker?

Das babylonische Stimmengewirr wird täglich lauter. Eine Diskussionsgrundlage für den neuen Energie-Kurs wird - aller Kritik auch aus den eigenen Reihen zum Trotz - das Grundsatzpapier sein, das Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) am Mittwoch im Landtag vorgelegt hat. Just an dem Tag, als die Netzbetreiber Tennet und Transnet in Berlin die Trasse für ihre neue Stromautobahn von Hamburg nach Grafenrheinfeld vorstellten und sich dabei halb amüsiert, halb verärgert über die Münchner Stromausbaubremse äußerten.

Seehofer gilt nicht nur dem politischen Gegner als Wendehals und Populist. Das Aus der Kernkraft boxte er gegen den Mehrheitswillen der CSU durch. Vor der Landtagswahl opferte er die Windkraft, jetzt, wenige Woche vor der Kommunalwahl, muss der Ausbau der Stromnetze dran glauben. Obwohl Bayern im Bundesrat für die Beschleunigung beim Netzausbau stimmte (und sogar noch mehr Tempo wollte), hat jetzt der Dialog mit dem Bürger Vorrang.

Bayerische Folklore? Seehofer gibt in der Bundespolitik unüberhörbar den Ton mit an und versteht es überaus geschickt, der wackeligen Beschlusslage der Großen Koalition ein ums andere Mal einen Münchner Fußabdruck zu verpassen. Als Seehofer öffentlichkeitswirksam den Stopp für den Leitungsbau forderte und damit die aufgebrachten Gemüter in seinem Freistaat ein wenig beruhigte, war das gleiche Thema in Berlin noch eine "Bundesdrucksache".

In der verkündete die Bundesregierung auf Anfrage der Grünen verklausuliert in etwa Folgendes: Wir haben keinen Plan, wie es mit der Energiewende weitergeht. Seehofer sagt nichts anderes. Der Unterschied: Auch der Bundesenergieminister Sigmar Gabriel, der für die schwarz-gelben Versäumnisse der letzten vier Jahre büßen muss und Seehofer beim Leitungsbau in die Parade fährt, bezieht für den Schlingerkurs bei der Energiewende von allen Seiten Prügel. Nur sieht er wirklich wie ein geprügelter Dackel aus, Seehofer stets wie der "Kini".


Dutzende offene Fragen

Doch die Energiewende taugt nicht als Bühne für persönliche und/oder politische Profilierung. Wenn man Rufern wie dem Chef des Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, Einhalt gebieten will, der in der Kernkraft die allein selig machende Energiequelle sieht, braucht das Land jetzt schnell einen Plan: Welchen Beitrag leisten Wind- und Sonnenkraftwerke zum Energiemix, wo werden sie gebaut und wann? Wie kann ohne Kernkraft die Grundlast gesichert werden? Wie kommt der Strom von A nach B, und wie bleibt er für Bürger und Industrie bezahlbar?

Dass diese Fragen im Jahr drei nach Fukushima noch nicht beantwortet sind (beziehungsweise neu gestellt werden müssen), bedeutet nicht das Ende der Energiewende. Es belegt im Gegenteil sogar ihren Erfolg: Selbst Optimisten hätten nie damit gerechnet, dass es in Deutschland möglich sein könnte, in so kurzer Zeit so viel Strom aus Wind und Sonne zu erzeugen. Der Turm zu Babel hat schon ein Dach. Höchste Zeit jetzt, die Stockwerke untenrum zu bauen.


Kommentar:

Dass ausgerechnet der Leitungsbau zum Knackpunkt der Energiewende werden könnte, hat wohl niemand geahnt, nicht einmal Horst Seehofer, dem es beim Bau der Hauptschlagadern der Stromversorgung anno dazumal, also vorgestern, gar nicht schnell genug gehen konnte. Seine Kehrtwende hat etwas von absurdem Theater: Woher soll der Strom kommen, wenn in Bayern die Atomkraftwerke abgeschaltet werden und Importe von Kohle- oder gar Atomstrom ein Tabu sind? Alles im grünen Bereich, sagt Seehofer. Es fehlt ja am Ende auch nur die Hälfte des in Bayern verbrauchten Stroms. Vielleicht verkündet der CSU-Chef übermorgen, dass der Klimawandel in Bayern beschleunigt wird. Das spart Energie ...

Spaß beseite. Seehofers Hüftschüsse haben, wohl unbeabsichtigt, eine Schwachstelle des Energie-Gebäudes aufgedeckt. Die zentralistische Stromerzeugung in Großkraftwerken soll 1:1 ersetzt werden durch wenige zentrale Stromleitungen. Damit sichern sich die Stromkonzerne (und die mit ihnen verbandelten, wenn auch rechtlich getrennten Netzbetreiber) dauerhaft ihr Monopol beim Strom.

Die Energiewende war mal anders gedacht: dezentral, regional, mit vielen kleinen Erzeugern, autarken Dörfern und der Möglichkeit echter Bürgerbeteiligung: an Windparks und Wertschöpfung. Wenn nicht alle auf der Leitung stehen, lässt sich die Seehofersche Denkpause vielleicht zu einer Korrektur in diese Richtung nutzen.