Zwischen Coburg in Oberfranken und Bethlehem im palästinensischen Westjordanland liegen fast 4000 Kilometer. Grenzen, politische Probleme, kulturelle Unterschiede, Sprachbarrieren. Dem vierjährigen Mohammed* ist das alles egal. Der Palästinenserjunge lebt im SOS-Kinderdorf wie in einer kleinen Oase mit schönen Häusern und fröhlichen Geschwistern, während vor den Toren ein wohl unlösbarer Konflikt schwelt. Mohammed will spielen und zupft, international verständlich, den Besuch aus Franken am Hemd. Fußball! Fußball mit Mohammed Louay Yassin erfüllt ihm den Wunsch. Der Sprecher der "SOS-Kinderdörfer weltweit" - Wohnsitz Coburg, Dienstsitz: München - erklärt Journalisten bei dieser Reise in Israel und Palästina die Arbeit der international tätigen Organisation. Hier in einer Region, die für Außenstehende so beklemmend wie faszinierend ist. Mit einem Konflikt, für den bisher kein Staatsmann und kein Vermittler eine Lösung gefunden hat, seit die Vereinten Nationen das Gebiet 1948 geteilt und die Juden ihren Staat ausgerufen haben. Politische Lösung: zwei Staaten? Danach gab es immer wieder Krieg zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn - und in den besetzten Gebieten der Palästinenser bauen Israelis Siedlungen. Das macht die Friedensbemühungen so schwer. Der Status Palästinas wird von der internationalen Gemeinschaft nur bedingt anerkannt, aber die Mitarbeiter der SOS-Kinderdörfer sprechen davon, dass sowohl Israelis als auch Palästinenser am ehesten an eine Lösung glauben, die aus zwei Staaten besteht. "Jeder in Israel hat das Problem im Kopf", sagt Louay Yassin. "Aber wir versuchen, es nichts ins Kinderdorf zu lassen." Um über SOS reden zu können, muss er mit dem Kicken aufhören. Mohammed ist beleidigt und trollt sich schmollend. Kurz darauf ist er aber wieder zur Stelle: Mutter Alma* hat ihn geschickt, dem Besuch geschnittene Melonen zu bringen. Es ist schon spät, ein heißer Abend, der Wind streicht durch die Palmen im Kinderdorf. Mohammed sitzt sich auf Mutters Schoß und legt schläfrig seinen Kopf an ihre Brust. Der Kleine durfte heute ein bisschen länger aufbleiben. Almas 38 Kinder In Almas Haushalt lebt Mohammed mit seinen drei älteren, eigenen Brüdern und vier weiteren "Geschwistern", die wegen schwieriger Familienverhältnisse ins Kinderdorf kamen. 92 Jungs und Mädchen werden dort von fünf Müttern und vier Tanten (Vorstufe einer Mutter) betreut. Seit 1968 gibt es das Kinderdorf in Bethlehem. Alma ist seit 25 Jahren dabei. Sie drückt ihren Rücken durch und antwortet in englisch auf die Frage nach ihrer Arbeit: Schön, aber auch anstrengend. Abends ist sie immer müde, sagt sie, und hat trotzdem ein Lächeln übrig. 38 Kinder hat sie schon großgezogen, für sie in riesigen Töpfen Essen gekocht, mit ihnen Hausaufgaben gemacht und gespielt, Streit geschlichtet, Geburtstage gefeiert. Sechs Maschinen Wäsche pro Tag. Alma tut alles, um "ihre" Kinder auf den Weg in ihr eigenes Leben vorzubereiten und freut sich wie alle Eltern, wenn sie von den erwachsenen Kindern Besuch bekommt. Rührend: Hani und der Kleine Heute schaut Hani vorbei. Mit vier Monaten hat man ihn als Waisenkind und einen der ersten Bewohner ins Kinderdorf von Bethlehem gebracht. Für die Auswahl der Kinder ist - weltweit standardisiert - ein Kinderdorf-Verein vor Ort zuständig. Hani ist heute 49 Jahre alt und Bäcker. Ehrensache, dass er das Brot fürs Kinderdorf backt. Louay Yassin erklärt: "Es gibt für jedes Kind einen Entwicklungsplan. Immer wieder wird geschaut, wo steht es, was braucht es." Alle machen später eine Ausbildung, viele studieren. Sobald sie 14 Jahre alt sind, ziehen Bethlehems Kinder nach Geschlechtern getrennt in Jugendhäuser um. Hier werden sie betreut, bis sie 18 sind. Mit großen Augen und anfangs etwas schüchtern machen die Mädels auf Nachfragen der deutschen Journalisten klar: Sie wollen Jura studieren oder beim Radio arbeiten oder reisen und eine Familie gründen sowieso ... ganz normal eben. Die andere Seite Genauso normal wie im SOS-Kinderdorf im israelischen Arad: Hier sind 70 Kinder zwischen fünf und 18 Jahren auf zehn Familien verteilt. Im Gegensatz zum Kinderdorf in Bethlehem ziehen die Jugendlichen nicht mit 14 Jahren in externe Jugendhäuser um, sondern mit 13 Jahren in andere Häuser auf dem Gelände. Damit möchte man erreichen, dass möglichst Gleichaltrige mit ähnlichen Interessen zusammenleben. Das Kinderdorf ist so wie das in Bethlehem eine kleine Oase. Schon beim Betreten fühlt man sich wie in einem Feriencamp: Die Häuser sind architektonisch sehr interessant, fast ein wenig futuristisch und gleichzeitig in Bauhaus-Manier gestaltet, es gibt Spielplätze und in Gehegen gackern und flattern Tiere herum, um die die Kinder sich kümmern. Das gehört zum Erziehungsauftrag, erklärt uns die Leiterin des Kinderdorfs in Arad.Es liegt nah an der Wüste Negev - und die ist keineswegs menschenleer. Etwa 90 000 Beduinen leben hier. Kamele liegen am Straßenrand, überall stehen Zelte. Die Regierung will für die Beduinen eine Siedlung bauen, um sie besser "verwalten" zu können - 80 Prozent der Beduinen leben vom Sozialstaat. SOS leistet einen eigenen Beitrag mit einem "Day Care Center", das wir im Rahmen unserer SOS-Tour ebenfalls besuchen. Dort können 45 Beduinenkinder Hausaufgaben machen, essen und spielen. Sie kommen mit dem Bus an. Die Tür fliegt auf, schnatternd strömen die Buben und Mädchen herein. Und setzen sich brav gleich an den Tisch für die Schularbeiten. Entwicklungspläne für Familien Auch in Bethlehem und Hebron leistet SOS Familienhilfe außerhalb der Kinderdörfer. "Für die Familien gibt es Entwicklungspläne", sagt Louay Yassin. Seine Organisation bezahlt zum Beispiel den Schulbus und vermittelt Berufsausbildungen. Bei einer von fünf besuchten Familien ist die Hilfe sichtbar angekommen: Mutter und Vater von neun Kindern haben Nähen gelernt und verdienen ihren Lebensunterhalt mit schönen Jacken und Taschen. Die anderen vier Familien sind (noch) bettelarm, die Eltern arbeitslos, krank, Kinder mindestens sieben. Hier ist noch viel Engagement nötig, da muss Louay Yassin gar nicht viel erklären. SOS versucht, die Behausungen mit bestenfalls zwei Zimmern für bis zu elf Personen ein bisschen besser auszustatten. Ohne SOS wäre die Familie verloren Die Eltern haben, man sieht es, ihre Wohnungen für den Besuch zwar in den bestmöglichen Zustand gebracht. Trotzdem springt einem das blanke Elend entgegen. Eine der Mütter hat ihr entstelltes Gesicht mit einer Kapuze bedeckt. Ihr Mann schlägt sie. Sechs ihrer sieben Kinder sind behindert. Ohne SOS würde sie endgültig untergehen.*Namen von der Redaktion geändert. So kann man SOS-Kinderdörfer unterstützen Gründung 1949 gründete der österreichische Medizinstudent Hermann Gmeiner den SOS-Kinderdorf-Verein und baute mit Freunden das erste SOS-Kinderdorf in Imst/Österreich. Das Leitbild lautet: "Jedem Kind ein liebevolles Zuhause".Kinderdörfer Heute ist SOS in 135 Ländern aktiv. Weltweit gibt es derzeit 571 Kinderdörfer. SOS unterstützt international 1,5 Millionen Kinder, Jugendliche und Familien in über 2500 Projekten: Jugendeinrichtungen, Kindergärten, Hermann-Gmeiner-Schulen, Berufsbildungs- und medizinische Zentren. Außerdem gibt es Familienprogramme und leistet SOS Nothilfe in Katastrophen- und Krisengebieten. Israel Der israelische SOS-Kinderdorf-Verein wurde 1977 gegründet. Aktuell gibt es in Israel zwei SOS-Kinderdörfer, eine Jugendeinrichtung und zwei Sozialzentren.Palästina Das SOS-Kinderdorf in Bethlehem nahm 1968 die ersten Kinder auf, 2001 kam das Kinderdorf Rafah in Gaza hinzu. Außerdem gibt es in Palästina 14 weitere SOS-Einrichtungen wie beispielsweise Kindergärten, Schulen und psycho-soziale Nothilfestationen und drei Sozialzentren.Spenden SOS-Kinderdörfer hat das Spendensiegel des Zentralinstituts für soziale Fragen (DZI). Mit 15 Euro ermöglicht man den Kauf von Schulbüchern für ein Kind im Gaza-Streifen.Patenschaft Für 15 Euro im Monat kann man eine SOS-Familienpatenschaft übernehmen, für 31 Euro eine Kind- oder Kinderdorfpatenschaft. Die Patenschaft ist jederzeit kündbar und kann steuerlich abgesetzt werden. Paten bekommen regelmäßig Informationen über ihre Kinder oder Projekte. Infos Arbeit und Ziele der Hilfsorganisation sowie Unterstützungsmöglichkeiten sind unter www.sos-kinderdoerfer.de nachzulesen. Paten können sich telefonisch unter 089/17914-160 informieren, Spender unter Tel. 0800/5030300 (kostenfrei). Lesen Sie hier ein Interview mit Nahost-Experten Peter Lintl Ob es für Israel und Palästina jemals Frieden geben kann: Peter Lintl äußert sich vorsichtig. Der Nahost-Experte der Uni Erlangen wechselte jüngst zur Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, wo er weiter in seinem Forschungsgebiet Israel arbeitet. Was sind die Haupt-Streitpunkte des Nahost-Konflikts?Peter Lintl: Nach dem Zweiten Weltkrieg wollten die Juden dem Antisemitismus entfliehen und einen eigenen Staat aufbauen. Dies wurde unterstützt von den Briten, die in dem von ihnen gegründeten Mandatsgebiet Palästina zionistische und palästinensische Ansprüche auf das Land anerkannten. Das anvisierte Staatsgebiet auf dem Territorium des osmanischen Reichs wurde als Land Israel identifiziert, heute als Palästina bekannt. Dabei war es damals mehr als 1000 Jahre nicht mehr als Palästina bezeichnet worden. Mit wachsender Zuwanderung kam es zu verstärkten Konflikten zwischen Zionisten und Palästinensischer Bevölkerung. Seither geht es um die Frage, wer das Recht hat, in diesem Land einen Staat zu gründen.Diese Frage ist bis heute ungeklärt. Warum ist das so schwer?Weil beide Seiten in allen Aushandlungsprozessen kaum aufeinander zugegangen sind und einander zumindest ein Stück weit anerkannt haben. Seit Israel im Sechs-Tage-Krieg 1967 die palästinensischen Gebiete Ostjerusalem und die Golan-Höhen annektiert hat, leben die Palästinenser wieder unter Besatzung. Hinzu kommt der Druck durch die jüdischen Siedlungen, die weiter in den palästinensischen Gebieten gebaut werden. Gibt es in absehbarer Zeit Chancen für eine Lösung?Es gibt bis heute Mehrheiten auf beiden Seiten, die eine Zwei-Staaten-Lösung befürworten und bereit sind, Kompromisse einzugehen. Bisher ist das gescheitert, weil Extremisten auf beiden Seiten etwaige Friedenspläne torpediert haben. Nach 25 Jahren vergeblicher Bemühungen und einem tiefen Misstrauen auf beiden Seiten ist die Idee, dass ein Friedensprozess schnell vorangetrieben werden kann, nicht mehr da. Eine Konfliktlösung wird immer schwieriger, weil die Palästinenser nicht mit einer Stimme sprechen und sich Israels Ministerpräsident Netanjahu aus innenpolitischen Gründen keine Annäherung leisten kann. Wichtig wäre bei Friedensverhandlungen die Sicherstellung eines finalen Status, damit sich die Situation der Palästinenser nicht noch weiter verschlechtert und Israel keine weiteren Siedlungen baut.