Wenn etwas so einfach klingt, muss es ja kompliziert sein: Bei der Bundestagswahl am Sonntag hat jeder Wähler zwei Stimmen. Und damit werden die 598 Mitglieder des Bundestags bestimmt: 299 über die Erststimme und genauso viele über die Zweitstimme. Warum hat der aktuelle Bundestag dann aber 620 Sitze? Und warum könnte der neue Bundestag sogar auf 700 oder noch mehr Sitze anwachsen?Das liegt an der komplizierten Rechnerei mit den zwei Kreuzchen, die wiederum nur ein Ziel verfolgt: möglichst große Wahlgerechtigkeit, sprich die präzise Abbildung des Wählerwillens in der Zusammensetzung des Parlaments. Hier hatte zuletzt das Bundesverfassungsgericht (wieder mal) "Stopp" gerufen und eine Änderung des Wahlrechts gefordert: Die so genannten Überhangmandate verfälschen das Wahlergebnis. Die Lösung heißt Ausgleichsmandate. Überhangmandate Überhangmandate entstehen, wie Christoph Seils in einem Beitrag für die Bundeszentrale für politische Bildung erklärt, durch das Zwei-Stimmen-Wahlrecht in Deutschland, eine Mischung aus Verhältnis- und Persönlichkeitswahl: Mit seiner Erststimme entscheidet der Wähler, welchen Direktkandidaten aus seinem Wahlkreis er in den Bundestag schicken will. Da es zum Teil ein Dutzend Direktkandidaten gibt, kann ein Kandidat schon mit einem Stimmenanteil von beispielsweise nur 30 Prozent gewinnen und den Sitz im Bundestag erobern. Gäbe es nur diese erste Stimme, könnte also theoretisch eine Partei alle Sitze im Bundestag gewinnen, obwohl nicht einmal die Hälfte der Wähler sich für sie entscheiden hat. Das wäre ungerecht. Verlorene Stimmen Deshalb gibt es die zweite und an sich wichtigere Stimme: Mit der Zweitstimme entscheidet sich die Wähler für die Landesliste einer Partei. Dieses Stimmenergebnis legt fest, wie viele Sitze den Parteien im Parlament zustehen - ein genaues Abbild des Wählerwillens mit der Einschränkung der Fünf-Prozent-Hürde: Parteien, die weniger als fünf Prozent Stimmenanteil erhalten, kommen nicht ins Parlament, die Stimmen für diese Parteien sind verloren, sprich werden auf die erfolgreichen Parteien verteilt. Mit diesen Besonderheiten des Wahlrechts zog die junge Bundesrepublik die Lehren aus der Weimarer Republik. Hier hatte eine reine Verhältniswahl zu einer völligen Zersplitterung des Parlaments in viele kleine Gruppierungen und damit am Ende zur Handlungsunfähigkeit geführt. Mehr oder weniger Zurück zur Erst- und Zweitstimme: In der Praxis kommt es häufig vor, dass eine Partei über die Erststimme mehr Abgeordnete ins Parlament schicken darf, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen. Denn alle direkt gewählten Abgeordneten sind "gesetzt". Die Lösung heißt Überhangmandat: Das Parlament wird um entsprechend viele Sitze vergrößert, damit alle Wahlsieger Platz finden. Deswegen hat der aktuelle Bundestag nicht 598, sondern 620 Sitze. Wobei zu beachten ist, dass die Rechnung noch viel komplizierter ist als hier kurz dargestellt; denn die Parlamentssitze werden entsprechend der Größe auch noch auf die 16 Bundesländer verteilt ...Doch all dies war den Verfassungsschützern noch nicht kompliziert - und gerecht - genug. Sie kritisierten die hohe Zahl der Überhangmandate nach dem alten Wahlrecht, die das Wahlergebnis verfälschen; bei einem knappen Wahlausgang (wie am Sonntag zu erwarten) könnte ein Überhangmandat das Zünglein an der Waage sein. Nicht der Wählerwille entschiede dann, sondern der Taschenrechner. Negatives Stimmengewicht Ein Dorn im Auge waren dem Verfassungsgericht weitere Finessen wie das "negative Stimmgewicht", das bei der Verteilung aller Stimmen, die nicht für einen "ganzen Abgeordneten" reichen, zu paradoxen Ergebnissen geführt hat: Eine Partei konnte durch Verluste bei den Zweitstimmen einen Abgeordneten hinzu gewinnen ...Der Bundestag entschied sich nicht für ein völlig neues Wahlrecht, um den Vorgaben der Richter zu entsprechen, sondern rüstete das alte Recht auf (gegen die Stimmen der Linken). Einfach ausgedrückt (es ist natürlich hochkompliziert) werden die Überhangmandate durch Ausgleichsmandate ergänzt, sprich der Bundestag so lange vergrößert, bis das Verhältnis der jeweiligen Parteien-Sitze so genau wie möglich dem Wahlergebnis bei der Zweitstimme entspricht.Bei dieser Rechnerei geht es nicht etwa um ein paar Sitze und her, die keinen großen Unterschied ausmachen. Nach dem neuen Wahlrecht hätte der jetzige Bundestag statt der 620 bereits 671 Sitze, weil die 24 Überhangmandate für CDU und CSU 47 Ausgleichsmandate generiert hätten. Das hat eine Modellrechnung des Bundeswahlleiters Roderich Egeler ergeben. Gewinner oder Verlierer? Auf Spekulationen zur Größe des nächsten Bundestages will sich Egeler nicht einlassen. Das sei "völlig offen" durch die Komplexität des neuen Wahlrechts, das nicht nur die Stimmen für die Parteien präzise gewichten, sondern auch die unterschiedlichen Wahlbeteiligungen ausgleichen will und und und ... Eine der großen Unsicherheitsfaktoren ist ausgerechnet die CSU:Weil sie nur in Bayern antritt, zählt sie bundesweit zu den kleinen Parteien; die Überhangmandate gerade für die kleinen Parteien führen aber dazu, dass sehr viele Ausgleichsmandate gebildet werden müssen. Damit könnte der sichere Gewinn der meisten direkten Fahrkarten in der Bundestag am Ende für die CSU zu einem Pyrrhussieg werden: Wächst das Parament auf 700 oder gar noch mehr Abgeordnete an, was nicht unwahrscheinlich ist, verringert sich womöglich im Verhältnis der Einfluss der nach der Landtagswahl vor Selbstbewusstsein nur so strotzende Seehofer-Partei in Berlin. So einfach und doch so kompliziert ist die Wahl.Alle Artikel und aktuelle Zahlen am Wahlabend zu den fränkischen Stimmkreisen finden Sie auf www.wahlen.infranken.de.