Als Russland am 24. Februar ihre großflächige Invasion in der Ukraine starteten, waren sich Experten schnell einig: Der Krieg werde nur wenige Tage dauern, die Ukraine könne der militärischen Supermacht Russland kaum etwas entgegensetzen. Eine Kapitulation schien unvermeidlich.

Doch wenige Wochen später hat sich die Situation scheinbar komplett gewandelt. Von einem Sieg Russlands ist in westlichen Medien kaum noch die Rede. Vielmehr wird so getan, als sei eine russische Niederlage nur noch eine Frage der Zeit ist. Der österreichische Militärexperte Markus Reisner ist jedoch weniger optimistisch. In einem Interview mit Focus Online sagte er zuletzt: "Dieser Krieg ist noch lange nicht entschieden und Putin hat ihn noch nicht verloren – auch wenn das keiner hören will."

Lage erinnert an Stellungskrieg im 1. Weltkrieg

Reisner analysiert für die Theresianische Militärakademie in Wiener-Neustadt regelmäßig die militärische Lage in der Ukraine. Dabei sei es schwierig, ein objektives Bild der Lage vor Ort zu erhalten - sowohl Russland als auch die Ukraine versuchten, die Situation in ihrem Sinne darzustellen.  

So sei es zwar unzweifelhaft, dass Russlands ursprüngliche Pläne - nämlich große ukrainische Gebiete binnen kürzester Zeit zu besetzen und so den Verteidigungswillen der ukrainischen Truppen zu brechen - gescheitert sind. Daraus abzuleiten, dass Russland den Krieg nicht mehr gewinnen könne, sei jedoch falsch. Vielmehr hat sich die Art der Kriegsführung verändert.

Die Lage in der Ostukraine erinnert Reisner mittlerweile an die Lage im 1. Weltkrieg: Ukrainische Truppen hätten sich in der Region Isjum verschanzt. Gegenseitiger, schwerer Artilleriebeschuss, kaum Geländegewinne - der Ukraine-Krieg wird immer mehr zum Abnutzungskampf.

Russische Luftüberlegenheit gegen westliche Materiallieferungen

Einen solchen könne die Ukraine aber nur mit massiver Unterstützung des Westens gewinnen. Denn für diese Art der Kriegsführung brauche es vor allem eines: Material.

Das Hauptproblem der Ukraine ist laut Reisner die russische Luftüberlegenheit. Die zunehmenden Luftschläge im Westen der Ukraine, vor allem im Raum Odessa, hätten das Ziel, die Materiallieferungen in den Donbass zu unterbrechen. Gelingt dies, könnten die russischen Truppen die ukrainischen Stellungen im Donbass einkesseln und dem ukrainischen Militär so eine empfindliche Niederlage zufügen.

Doch egal, wie sich die Lage in den nächsten Tagen entwickelt: Von einem schnellen Ende des Krieges geht Markus Reisner nicht aus. Für die Ukraine kommen Gebietsverluste im ökonomisch wichtigen Osten des Landes nicht infrage. Aber auch Putin kann sich nicht zurückziehen: Das Eingeständnis einer Niederlage würde seine Machtbasis in Russland massiv schwächen. Innenpolitisch wäre eine Niederlage in der Ukraine für Putin der Super-Gau.

Reisner geht deswegen davon aus, dass Russland seine Kriegsbemühungen weiter intensivieren wird. "Bei einem Abnutzungskrieg schlagen beide Seiten so lange aufeinander ein, bis eine nachgibt", beschreibt er die momentane Lage. Doch dies kann dauern. Laut dem österreichischen Militärstrategen "dauert dieser Konflikt mindestens bis Ende dieses oder Mitte nächsten Jahres." Ausgang offen.

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